
Kastanienherz
Gruppensieger beim Ideenzauber-Award (Wattpad)
Kennt ihr Weggefährten?
Das sind Menschen, die dich auf deinem Lebensweg ein Stück weit begleiten.
Manche gehen nur wenige Stunden mit dir, andere jahrelang.
Viele Gesichter verblassen, einige willst du vergessen.
Doch hin und wieder nimmt dich einer bei der Hand, berührt dein Herz
und bleibt allezeit in deinen Gedanken.
Falsche Freunde
Was für ein Meisterwerk! Mein Schloss war gigantisch. Es hatte drei Türme und rundherum schlängelte sich ein Graben mit Wasser. Darüber führte eine Brücke zum Eingang.
Meine Wangen brannten so heiß wie der Sand, jetzt bloß keinen Fehler machen. Noch ein paar Gänseblümchen darüber und fertig war das Kunstwerk. Ich klatschte in die Hände und rubbelte die klebrige Masse ab. Die anderen würden Augen machen. Ich war die weltallerbeste Sandburgen-Bauerin weit und breit.
Ein Kichern purzelte aus meiner Kehle, weil die Ameisen in meinem Bauch so wild herumkrabbelten. Das Schloss war fantastabulös! Wehe dem, der es zerstörte, das würde Krieg bedeuten.
Ein Scheppern hinter mir. Ich blickte mich um.
Vor dem Haus war niemand, nur mein Fahrrad lag vor der Treppe. Martins Dreirad, Bennis Roller und Mamas Besen standen vor der Tür. Auf der Steintreppe zur Haustüre lagen Annas Turnschuhe.
Mein Blick wanderte die Hauswand hinauf. Einige Fenster standen offen, doch keine Gefahr in Sicht. Auch beim Schuppen und der Garage versteckte sich keiner der Banditen. Nur eine Taube pickte auf dem Boden herum. Ich wendete mich wieder meinem Heiligtum zu.
»Hey, kommst du hoch? Wir sind wieder da!«
Verdammt! Wer war das denn? Ich blickte mich um und sah Susi, meine Nachbarin, auf der Mauer hinter mir stehen. Was wollte die denn jetzt?
Susi schob ihren Kugelbauch nach vorne, wippte auf und ab und grinste, als hätte ihr jemand die Mundwinkel nach oben getackert. Vielleicht würde sie wieder verschwinden, wenn ich sie nicht beachtete. Ich wendete mich ab und drückte eine Blume auf eines der Türmchen.
»Hey, was is? Kommst du jetzt?« Susis Stimme klang wie eine quietschende Tür.
»Nö! Muss fertig bauen«, krähte ich hoch und deutete auf mein Meisterwerk. Dann suchte ich nach einem Stein für das Schloss. Ich beugte mich nach vorne, um genauer zu suchen und strich durch den Sand.
»Jetzt komm schon, Hanna!«, hörte ich Susi krähen. »Biitte! Mir ist langweilig.«
Mir doch egal, dachte ich. Letztens hatte sie auch keine Lust gehabt, mit mir zu spielen, als ich bei ihr geklingelt hatte. Und jetzt wollte ich auch mal meine Ruhe haben.
Ich drehte mich noch ein Stückchen weiter von ihr weg.
Da passierte es. Plötzlich fuhr ein Stich durch mein Ohr. Ein brennender Schmerz breitete sich aus. Meine Hand tastete danach, wurde warm und eine klebrige Masse rann mir über die Finger. Ich fuhr über die Stelle. Was war das? Mir wurde schwindelig. Dann überrollte mich die Übelkeit. Ich hatte einen Kreisel im Kopf und mein Ohr fühlte sich an, als wäre mir jemand mit dem Bügeleisen drübergefahren.
Susi stand immer noch auf der Mauer und grinste, die Arme in die Seiten gestemmt. Warum lachte sie so blöd? Ich suchte weiter und dann sah ich ihn. Den Stein. Er lag neben mir − groß und kantig. Wo war der hergekommen? So ein Brocken war vorher nicht da gelegen und Steine fliegen nicht von allein.
In mir tobten Schmerzen, nicht nur im Ohr, auch in meiner Brust. Ein Ungeheuer erwachte in meinem Körper, ich kniff meine Augen zusammen und ballte die Fäuste. Dann ließ ich los und schrie alles heraus. Eine Wasserbombe platzte in meinem Bauch. Ich wollte Susi von ihrer doofen Mauer herunterbrüllen.
Da packte mich jemand von hinten an den Schultern und drehte mich herum. Ich spiegelte mich in den Pupillen meiner Mutter, so groß waren sie. Wie glänzende Murmeln.
»Hör auf zu schreien, Hanna! Was ist denn los?« Ihr Blick wanderte zu meinem Ohr. »Was ist denn … du blutest ja!« Sie nahm mich in die Arme und strich mir über den Rücken. »So beruhig dich doch. Alles ist gut …« Aber ich konnte mich nicht beruhigen. Mein Ohr brannte wie Feuer und meine Wut kochte wieder hoch. Ich drehte mich um und wollte Susi erneut anschreien − doch die Mauer war leer.
Doroteja
Mein Ohr war bald wieder verheilt. Aber da war noch eine andere Wunde, die da drinnen in meiner Brust. Susi verfolgte mich bis in meine Träume. Sie stand wie ein Geist vor mir und lächelte mich mit ihren roten Hamsterbacken an. Und sogar, wenn ich wach war, spukte sie in meinem Kopf herum. »Komm, spielen wir!«, krächzte Susi in mein Ohr. Ich hielt mir die Hand drauf, doch die Stimme war trotzdem noch da. Dann fühlte ich die harte Kruste, die sich auf die Verletzung gelegt hatte.
»Du kannst mich mal«, zischte ich. Susi war für mich gestorben. Wie ein Stein lag ich in meinem Bett, schlug mit der Faust auf die Decke und knurrte. Am liebsten würd ich einfach liegenbleiben und nichts tun, außer Löcher in die Wand zu starren.
Die Tapete war an einigen Stellen losgelöst und ich hatte das Bedürfnis, daran zu ziehen. Schöne lange Tapetenfetzen, die ich mit einem »Ratsch« herunterreißen würde − da hätte ich jetzt Lust drauf. Sie sah sowieso hässlich aus.
Der Punkt an der Wand bewegte sich und flog zum offenen Fenster hinaus. Ich verfolgte ihn mit meinem Blick. Doofe Fliege, die hats gut, kann einfach so aus dem Fenster fliegen. Das wär noch besser, als hier liegen zu bleiben.
Das Bett am anderen Ende des Zimmers war leer. Martin war schon bei Mama unten in der Küche. Gleich würde sie mich holen, ich stellte mich schlafend. Da kam mir ein Einfall, eine grandiose Idee. Ich riss die Augen wieder auf.
Na klar! Das war die Lösung! ALLE konnten mir gestohlen bleiben. Alle im Kindergarten und alle hier zuhause. Von nun an würde ich nur noch alleine spielen. Das war die beste Idee seit langem. Keine Freunde – kein Ärger.
Ich sprang aus dem Bett und testete meine neu entdeckte Strategie sofort aus.
Marko stand schon vor der Tür und wollte mich abholen. Das tat er oft, denn mein Haus lag direkt auf seinem Weg. Da ich schon sechs Jahre alt war, durfte ich allein zum Kindergarten gehen. Er ging auch allein, weil es seinen Eltern egal war. Marko war immer überall – außer daheim.
Er stand dort und grinste mich mit seinen verfaulten Zähnen an. Ich rümpfte die Nase, weil eine Rotzglocke seine Nase zierte. Er sollte heute der Erste sein, den ich wie Luft behandeln würde. Ich schickte einen meiner allerbösesten Blicke in seine Richtung und spazierte an Marko und meiner Mutter vorbei, als wäre ich eine Königin.
»Tschüss!«, rief meine Mama. »Und beeilt euch, ist schon spät!« Dann fiel die Tür ins Schloss.
Die Sonne brannte auf meinen Kopf. Mama hatte mir zwar eine Kappe aufgezogen, aber die sah aus wie eine Babymütze. Deshalb war sie in meine Tasche gewandert. Hinter mir hörte ich die Schritte und die Rufe meines Begleiters, aber ich schenkte ihm keine Beachtung.
Mein Plan gefiel mir. Ich war richtig stolz auf meinen grandiosen Einfall. Markos Sprüche hörte ich schon bald nicht mehr und die Steinchen, die er warf, juckten mich auch nicht. Ich rannte immer schneller und kurz vorm Ziel hatte ich ihn dann endlich abgehängt. Der Kindergarten erschien nach der Kurve und mein Herz klopfte, als wollte es herausspringen.
Meine Idee funktionierte tatsächlich. Ich musste mich von nun an mit niemandem mehr herumärgern. Die Fliege von vorhin kam mir in den Sinn. Ich fühlte mich in dem Moment, als würde ich ihr durch das Fenster folgen.
Doch es kam ganz anders. Das Schicksal hatte andere Pläne, wie so oft im Leben. Ich sollte meine Idee schon sehr bald in den Wind schießen.
***
Ich saß in der Leseecke und las einigen Kindern vor. Ich konnte nämlich schon lesen. »Kö…«, las ich. Da wurde ich unterbrochen. Frau Bogner war in der Tür erschienen, neben ihr ein Junge, ein Mädchen und eine Frau.
»Das ist die Familie Novak. Der kleine Ivo, seine Schwester Doroteja und die Mama der beiden.« Frau Bogner betonte jedes ihrer Worte.
Warum sprach sie so seltsam? Wir waren doch nicht doof! Sie guckte mit ihren Froschaugen über die Brille. Das graue Haar ordentlich frisiert. Dann beugte sie sich zu uns herunter und fuhr fort mit ihrem seltsamen Geplapper. »Sagt schön guten Tag, Kinder!«
»Guten Tag, Familie Noowaak!«, ertönte es im Chor. Die Mama lächelte, ihre Wangen waren so rot wie zwei Kirschen. Sie sah aus wie diese Frauen in den Zeitschriften. Das pure Gegenteil der alten Schachtel neben ihr.
Ich mochte Frau Novak vom ersten Moment an. Sie schimpfte sicherlich niemals und backte jeden Tag leckeren Kuchen. In ihrem Kleiderschrank sah ich bunte Sommerkleider, Stöckelschuhe und passende Handtaschen dazu. Ihr Parfüm wehte bis zu mir herüber.
»Ivo und Doroteja sind neu hierhergezogen und werden ab morgen in unseren Kindergarten gehen. Wir sind alle ganz besonders nett zu den beiden, habt ihr verstanden?« Frau Bogner klatschte in die Hände und gab uns das Zeichen, weiterzuspielen. Dann wendete sie sich der Kirschmama zu.
Ich schielte zu dem Mädchen. Es sah sich um, mit großen schwarzen Augen und ebenso schwarzen Locken, die ihr ins Gesicht fielen.
Sie trug eine weiße Strumpfhose, ein gelb-blaues Kleid und einen Haarreif. Sie erinnerte mich an einen Film. Was war das gleich nochmal?
»Schneewittchen!«, murmelte ich. Die sieht aus wie das Disney-Schneewittchen mit dem gelben Kleid und dem roten Haarband. Ich liebte schwarze Haare. Man mag immer das, was man nicht hat. Ich hatte keine schwarzen Haare, ich war wie Pippi Langstrumpf. Meine Haare waren rot und mein Gesicht voller Sommersprossen.
»Hmm«, brummte ich. Was sollte das Ganze jetzt? Frau Bogner ging mit den Dreien im Gänsemarsch durchs Zimmer und sprach dabei mit Händen und Füßen.
Der kleine Junge grinste ständig und ich sah verfaulte Zähne hervorblitzen − wie bei Marko. Der soll in den Kindergarten? Der war ja noch ein Baby. Mir wurde das Theater zu blöd. Ich ging in die Puppenecke und spielte. Das Baby musste gewickelt werden, es schrie kläglich und machte ein hässliches Gesicht dabei.
Plötzlich riss mir jemand die Windel aus der Hand. Fremde Hände zogen das Baby von mir weg und ich blickte auf. Schneewittchen saß neben mir, schüttelte mit hochgezogener Augenbraue den Kopf, legte das Baby sanft auf das Kissen und machte: »tztztz«
»Hey du, glaubst ich kann das nicht?«, fauchte ich sie an und schnappte mir die Puppe wieder. Ich drehte mich weg und knurrte. Was bildete die sich eigentlich ein? Die sollte mal lieber ihren vergifteten Apfel essen, dann könnte ich in Ruhe weiterspielen. Dann äffte ich sie nach: »tztztz«
Doch die Neugier pikste mich wie eine Nadel und ich schielte zu ihr hinüber. Da saß Doroteja mit einer anderen Puppe und wickelte sie mit ernster Miene wie eine echte Mutter.
Mir fehlten die Worte. Ich knallte meine Puppe auf den Holzboden und durchbohrte Doroteja mit meinem Blick. Was für eine Verrückte! Die hatte vielleicht Nerven, als wäre das hier ihr Zuhause − als wäre das ihr Schloss!
Doch dann fiel mir mein Plan wieder ein. Allein spielen, in Ruhe und Frieden. Ich zog mein Baby an und drehte mich weg von Doroteja.
Der Dschungel
Die letzten Kindergartentage schmolzen dahin. Die Neue dachte scheinbar wirklich sie sei eine Prinzessin. Ständig störte sie mich beim Spielen und quatschte mich voll. Ich verstand ihre Worte nicht, denn Schneewittchen sprach kroatisch, wie ich später erfuhr. Sie und ihre Familie waren vor dem Krieg geflohen, was auch immer das bedeuten mochte. Es interessierte mich nicht. Ich wollte ja in erster Linie meine Ruhe.
Die Sommerferien waren da und ich freute mich auf die Schule. Ich sah das Gesicht der Lehrerin schon vor mir und hörte sie sagen: »Ohh, du kannst ja schon lesen und schreiben, du bist aber ein schlaues Mädchen!« Ich spürte wieder meine Krabbeltiere im Körper.
Doch zuerst stand Freiheit auf dem Plan. Es gab einige Lieblingsplätze, wo ich mich häufig rumtrieb. Mein allerliebster Platz war nicht weit von unserem Haus entfernt. Der Kastanienbaum. Genau genommen, waren es mehrere Kastanien, die beisammenstanden und unter dem Hügel war eine Fledermaushöhle. Die war ziemlich gruselig, vor allem das dicke Eisentor davor. Es sah aus wie ein Gefängnis.
Oben auf dem Hügel war ein Kastanien-Dschungel. Die Blätterkronen glichen einem Zeltdach. Die überirdischen Wurzelgebilde ragten aus der Erde heraus wie hunderte Schlangen, die sich verschlingelten und umherkrochen. Die Zweige reichten tief und formten geheimnisvolle Höhlen.
Es war ein gigantisches Versteck. Ein Paradies für Abenteurer und das Tor zu einer anderen Welt. Hier trafen sich die Kinder der Siedlung − natürlich nur die Wilden, nicht die Langweiler. Die blieben schön brav in ihren eingezäunten Gärten sitzen. Ließen sich ihr Säftchen und ihre Kekse von Mamilein servieren und mussten zum Mittagsschläfchen wieder ins Haus. Oje, arme kleine Babys.
Wir dagegen kämpften mit Schlangen, Tigern und Monstern. Wir beobachteten zwielichtige Gestalten und bombardierten sie mit Kastanien. Die wilden Tiger gab es wirklich. Sie versteckten sich in den Bäumen und lauerten uns auf. Dann stürzten sie wie aus dem Nichts heraus und schlugen uns ihre Krallen ins Fleisch.
Doch meistens lagen sie nur schnurrend auf meinem Schoß und ließen sich kraulen − wie jetzt gerade. Ich hatte Mizielein eine Wurst gegeben und nun schlief sie zufrieden.
Gedankenverloren streichelte ich das warme Fell der Katze. Es leuchtete braun, wie die Kastanien, und die Schatten der Blätter tanzten auf ihrem Bauch. Die Hitze mischte sich unter die staubige Erde und die Sonnenstrahlen kitzelten meine Nase.
Ich hatte mir eine gute Höhle ausgesucht. Weit oben, am Rand des Dschungels. Hinter mir führte der Weg nach oben zu Markos Haus und vor mir ging es etwa drei Meter weit runter.
Ich schloss meine schweren Lider und mein Körper wurde zur Wurzel, als plötzlich ein Geräusch in mein Ohr drang. Ich hörte ein Knacksen, riss sogleich meine Augen auf und spähte durch ein Fenster im Blätterdickicht.
»Schscht!«, machte es. "Hey, Hanna, wo bist du?" Es raschelte nicht weit entfernt von mir. Ich konnte Umrisse erkennen. Rot hinter grünen Blättern.
Die Katze sprang von meinem Schoß und verschwand auf die Straße hinter mir. Ich rappelte mich auf und hielt die Luft an. Wer störte mich jetzt hier? Verdammt, nirgendwo konnte man mal in Ruhe vor sich hinträumen.
Das rote Ding kam raschelnd näher. Dann erschien ein Mondgesicht mit roten Bäckchen und schiefem Grinsen zwischen den Ästen. Oh nein! Susi schon wieder.
"Hey, da bist du ja!", quakte sie und entblößte ihre Zahnlücken. Ihre Augen waren nur mehr Schlitze. Dann schob sie ihren kugeligen Körper in meine Höhle hinein und baute sich vor mir auf. Ich musste immer noch an fliegende Steine denken, wenn ich Susi sah. Sie ließ sich neben mich plumpsen und griff nach meinem Rucksack. »Was hastn da drin?«, fragte sie und lugte hinein.
»Hey«, protestierte ich. Mann, war die verfressen. Schlimmer als der Tiger hier.
Beleidigt ließ sie von dem Rucksack ab und verschränkte ihre Arme vor der Brust.
Susi sah schrecklich aus. Dieses Kleid − wir hatten doch keinen Fasching. Sie wollte immer wie eine Dame aussehen. Oft schminkte sie sogar ihre Lippen und Nägel und stöckelte mit den Schuhen ihrer Mutter herum. Na gut, ich geb´s zu, manchmal machte ich mit.
»Stell dir vor, wer da unten rumstrawanzt«, flüsterte sie.
»Was? Wer?«, fragte ich. Susis Worte waren wie ein Eimer kaltes Wasser über meinem Kopf.
»Die Ausländerin«, antwortete sie. »Da unten, bei der Fledermaushöhle.«
»Was macht sie da?«
»Keine Ahnung! Hat nichts gesagt.« Susi zupfte an ihrem Kleid herum und wackelte mit ihren rot lackierten Zehen.
»Mhh! Die ist voll komisch«, murmelte ich und erhob mich. Vorsichtig schaute ich in Richtung der Höhle, aber ich sah sie nicht.
»Ausländer sind immer komisch«, sagte Susi und stand auch auf. »Komm! Wir ärgern sie ein bisschen«, flüsterte sie und kicherte.
Die Tiere in meinem Bauch explodierten. Ich knabberte an meinen Nägeln. »Wie denn?«, fragte ich. »Ist sie noch da?«
»Schaun wir mal, komm!«, schlug Susi vor und zog mich durch die Blätter hindurch, raus aus der Höhle. Wir bahnten uns den Weg nach unten.
Tatsächlich. Jetzt sah ich Doroteja. Sie spielte mit einem Stock, zeichnete Kreise in den staubigen Boden. Als wir näherkamen, hörte ich sie leise summen. Jetzt krabbelte es in meinen Armen und ich schüttelte sie. Was hatte Susi nun vor? Ich schielte rüber. Sie grinste, wie immer. Am liebsten würde ich abhauen, etwas lag in der Luft, was mir nicht gefiel.
Es war wie bei einem Unfall. Man will wegschauen, kann aber nicht. Es war wie ein Magnet, der an mir zog. Ich wollte weg, weg von Susi und weg von Doroteja, aber der Magnet im Boden presste mich an sich. Ich konnte mich nicht bewegen.
Was sich dann abspielte, sollte mein Gewissen noch lange Zeit belasten.
Die Kette
Doroteja blickte in unsere Richtung und stoppte ihr Spiel. Sie hob den Ast, zeichnete schwungvolle Achten in die Luft und grinste uns an. Mit riesigen Rehaugen fixierte sie Susi und mich. Sie war ein mutiges Reh.
»Willst du mitspielen?«, quäkte Susi.
»Was spielen?«, fragte Schneewittchen, ihre Augen glänzten. Sie bemerkte die Falle nicht, in die sie Gefahr lief, zu tappen.
Ich blieb stumm und kämpfte mit meinem Magneten im Boden. Mein Herz raste.
»Fangen!«, schlug Susi vor. »Das Gitter bei der Höhle ist Freibahn.«
»Gut. Ich spielen.« Doroteja warf den Stock in hohem Bogen fort.
Wie, verdammt nochmal, sollte ich Fangen spielen können, wenn ich wie gelähmt war. Susi klatschte mich ab. »Hanna, du fängst an!«, forderte sie.
Schwupps, der Magnet war verschwunden. Ich schob mein mulmiges Gefühl beiseite und rannte hinter den beiden her. Doroteja war wie ein Mäuschen, keiner von uns bekam sie zu fassen. Sie kreischte und lachte, strahlte uns mit roten Wangen an. Ich vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Vielleicht würde Susi gar nichts machen. Nur Fangen spielen.
Doroteja war im Dickicht verschwunden, da zog Susi mich zu sich. Wir standen mit dem Rücken an einen Stamm gelehnt, Susi hielt mich an der Hand. Ich schüttelte sie ab und flüsterte: »Was ist los?«
»Wir klauen ihre Kette!«
»Was für eine Kette?«, fragte ich. Meine Krabbeltiere schnürten mir die Luft ab. Ich wollte auch eine Kette. Unbedingt sogar. Ich trat von einem auf das andere Bein.
»Sie hat so ne Kette mit Katzen drauf, hast du die nicht gesehen?«
»Nö!« Ich lugte vorsichtig durch die Blätter und konnte Doroteja sehen.
Sie stand etwas weiter unten, die Hände in die Seite gestemmt, und wartete geduldig. Ihre schwarzen Locken reichten bis zu den Ohren und ihr Nacken war schmächtig. Das Kleid hing wie ein Sack an ihr. Spitze Schultern hoben sich ab.
»Was willst du machen?« Meine Hemmungen waren verflogen. Ich fühlte mich hier oben wie ein wildes Tier, das seiner Beute auflauerte.
»Wirst schon sehen!«, flüsterte Susi und rief: »Hey, Piiep, hier ooben!« Dann riss sie mich hinunter auf den Boden. Wir hockten im Staub und kicherten mit vorgehaltenen Händen.
»Ja! Ich sehen!«, rief Schneewittchen und setzte sich in Bewegung. Sie krabbelte nach oben wie ein kleines Äffchen, rutschte am Hang immer wieder ab. Bald war ihr blaues Kleid braun. Dann entdeckte sie uns. Sie schob die Blätter weg und wir stoppten unser Kichern.
»Da, ich fangen euch!« Sie tippte uns beide ab und hockte sich neben uns. Stöhnend rieb sie sich ihre Beine. »Wir spielen weiter?«, keuchte sie.
War sie etwa schon aus der Puste? Hörte sich jedenfalls so an. Susi kicherte nur.
Da sah ich die Kette. Sie war silbern, mit zwei Katzenfiguren drauf. Diese hatten, anstelle der Augen, zwei grüne Glitzersteine. Ihre Schwänze verknoteten sich zu einem Herz.
Die Kette war wunderschön.
Ich schwitzte und rutschte hin und her. »Ich brauch ne Pause«, sagte ich und setzte mich in den Schneidersitz.
»Ich auch!«, sagte Susi. Sie ließ sich nieder plumpsen und wirbelte Staub dabei auf.
»Ich auch!«, sagte Doroteja und kicherte. Sie wischte mit der flachen Hand über eine Wurzel und setzte sich drauf. Dann legte sie die Hände fein säuberlich auf ihren Knien ab.
Es folgten einige Minuten Ruhe. Die Gedanken wehten als laue Sommerbrise um uns herum. In mir kribbelte es bis in die Haarspitzen.
Da raschelte es plötzlich. Wir hielten den Atem an. Neben Susi huschte eine Katze zu uns herbei. Schnurrend schlich sie von einem zum anderen. Wir streichelten sie.
»Minkilein«, säuselte Susi.
»Das deine Katze?«, fragte Doroteja.
Susi nickte.
»Ich lieben Katze«, sagte Doroteja und schloss dabei die Augen. Susi und ich schielten auf ihre Kette, dann zwinkerten wir uns zu.
»Sieht man an deiner Kette.« Ich hatte meine Worte wiedergefunden.
Schneewittchen nahm den Anhänger in ihre Hände und sagte: »Geschenk von Mama und Papa!«
»Wennst mir die Kette mal gibst, darfst wieder mitspielen«, sagte Susi.
Mein Herz setzte aus. Susi wollte das echt durchziehen.
Doroteja verengte ihre Augen. Jetzt sah sie gar nicht mehr wie eine Prinzessin aus. »Hmm«, schmollte sie.
»Nur zum Anschauen. Ich will die Kette nur mal anschauen. Kriegst sie ja wieder«, bettelte Susi. Sie faltete ihre Hände wie zum Gebet. Zum scheinheiligen Gebet.
»Ja genau! Wir sind doch jetzt Freundinnen!«, sagte ich und war genauso scheinheilig dabei.
Doroteja lächelte wieder. Dann zuckte sie mit den Schultern und senkte ihren Kopf. Sie fummelte am Verschluss herum, löste die Kette vom Hals und legte sie in Susis Hände.
Susi strich darüber, hielt sich die Katzen vor die Augen und zögerte. Wie Gollum beugte sie sich über das Schmuckstück. Dann gab sie es mir. Die Augen der Katzen glänzten so wunderschön. Ich hatte noch nie so eine schöne Kette besessen. Warum hatte Doroteja so was Tolles und ich nicht?
Sie streckte mir ihre geöffnete Hand entgegen.
Ich schielte zu Susi. Die schüttelte kaum merklich den Kopf.
Mein Herz klopfte wie verrückt. Gleich würde ich platzen. Der Boden dröhnte und ich wand mich innerlich. Dann setzte mein Gehirn aus.
Ich legte die Kette in Susis Hand, die sprang auf und lief davon.
»Heyyy!« Doroteja schrie auf. »Meine Kette. Von Mama. Bitte komm!« Ihre Stimme brach.
Meine Brust zog sich zusammen. Nun waren die Tiere in meinem Kopf. Überall. Ich wollte das Geschrei nicht hören. Ich hielt mir die Ohren zu und da war er wieder. Der Magnet. Ich war wie gelähmt. Es dröhnte in meinen Ohren und ich sah zu Doroteja.
Sie stand vor mir und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie rief und bettelte, aber Susi war über alle Berge.
Ich hielt es nicht mehr aus. »Sei still!«, schrie ich, aber Doroteja weinte noch immer, sie hörte mich nicht. Dann lief sie weg und ich blieb allein zurück.
Himmel voller Luftballons
Susi sah ich die ganzen Sommerferien nicht mehr. Ich wusste nicht, was mit der Kette geschehen war. Ich wollte auch nicht darüber nachdenken.
Immer, wenn ich an Doroteja dachte, schnürte etwas meine Kehle zu und ich musste schwer schlucken. Dann sah ich ihre schwarzen Augen. Ich fühlte mich, als hätte ich ein Vogelbaby aus dem Nest gestoßen.
Die Ferien waren fast vorbei und ich hockte allein in meiner Dschungel-Höhle, streichelte die Katze auf meinem Schoß und dachte an die Schule. Neben wem ich wohl sitzen würde? Mir fiel niemand ein, außer Marko, aber so ganz zufrieden war ich mit ihm als Tischnachbarn nicht. Er war nicht immer mein Freund, nur, wenn ihm gerade danach war. Ich seufzte tief.
Die Blätterkronen verdeckten den strahlend blauen Himmel. Ein Vogel saß ganz oben auf einem Ast. Wie in Dauerschleife ertönte sein Gezwitscher. Ich könnte ihm stundenlang dabei zuhören. Die Welt stand still. Fast.
»Hallo, du!«, Eine Stimme riss mich aus meiner Träumerei. Ich schirmte meine Augen ab und blickte auf. Doroteja.
Ich sah in eine blaue Blume, auf einem gelben Kleid. Und Arme, in die Seiten gestemmt. Das Zweite, was mir ins Auge stach, war die Kette um ihren Hals. Die beiden Katzen formten ihr Herz auf Dorotejas Brust. Zwei grüne Augen glitzerten wie Edelsteine. Auf meiner Brust war nur ein Knoten, der mir meine Stimme raubte.
»Hallo!«, flüsterte ich. Meine Spucke schmeckte bitter. War alles nur ein Traum und die Kette nie weg gewesen? Nein, das konnte nicht sein, es war so real gewesen wie Doroteja jetzt gerade vor mir stand. Doch wie hatte sie die Kette zurückbekommen? Vielleicht waren ihre Eltern zu Susi gegangen oder Susi hatte doch noch ein schlechtes Gewissen bekommen. Ich grübelte und auch mein schlechtes Gewissen pikste noch immer in meiner Brust.
Wie konnte Doroteja jetzt so tun, als wäre nichts gewesen? Machte ihr das denn gar nichts aus? Immerhin war unsere Aktion ziemlich übel gewesen und ich könnte das Susi nicht so schnell verzeihen. Genau wie die Sache mit dem Stein und meinem Ohr, das nagte auch noch an mir wie eine hungrige Ratte.
Aber Schneewittchen lächelte wie eine waschechte Märchenprinzessin, was mich mächtig beeindruckte. Plötzlich erschien sie mir so stark wie eine Königin, trotz ihrer knochigen Schultern und den eingefallenen Wangen.
»Wir Fangen spielen?«, fragte sie, als wäre es das Normalste auf der Welt.
Ich rappelte mich auf, wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen und ich starrte sie an, weil ich mich vergewissern wollte, ob ich nicht träumte.
"Okay!", antwortete ich wie ein Roboter. Mir brannten so viele Fragen im Hals, aber ich schluckte sie herunter. Meine Ameisen würden das Feuer schon irgendwie löschen.
Und dann spielten wir, ohne zu ahnen, dass das Glück so unbeständig wie ein Sommertag war. Denn das Unwetter war bereits dabei, sich zusammenzubrauen und uns mit voller Wucht der Sonne zu berauben.
***
Wir spielten nicht nur an diesem Tag. Wir spielten auch am nächsten und am übernächsten. Wir spielten die restlichen Tage, bis zum ersten Schultag. Dann setzten wir uns nebeneinander, lugten an unseren bunten Schultüten vorbei und strahlten uns an. Unsere Wangen glühten und unsere Herzen klopften. Die Tiere im Körper waren nicht mehr unangenehm, es war nur mehr ein Kitzeln.
Doroteja wurde meine Freundin. Wir redeten nicht ein einziges Mal über die Sache mit der Kette. Trotzdem verfolgte mich Dorotejas Gesicht noch oft. Nie wieder wollte ich diesen Ausdruck in ihren Augen sehen.
Ich schloss Doroteja und ihre Familie tief in mein Herz, sie waren eine große Bereicherung für mich und haben meine Einstellung zum Leben bis heute tief geprägt.
Doroteja war wie ein Himmel voller Luftballons, ein Meer mit bunten Blumen. Mit ihr zu spielen, war wie im warmen Regen zu tanzen. Sie bedeutete Freundschaft ohne fliegende Steine, ohne Ärger, ohne Streit. Sie war immer bei mir. Egal, was geschah. Sie war es, die nach jedem kleinen Streit lächelte und mit den Schultern zuckte.
Doch eines Tages platzten unsere Luftballons. Wir fielen tief und landeten hart.
Nicht nur in Dorotejas Heimat waren Bomben explodiert. Auch hier bei uns schlug eine ein. Sie hieß: Realität! Der Krieg war vorüber und Familie Novak mit meiner Doro sollten Deutschland wieder verlassen müssen. Aber sie wollten hierbleiben, sie wollten nicht zurück, jetzt wo ihre Eltern Arbeit und die Kinder Freunde gefunden hatten. Sie gingen zur Schule, hatten Deutsch sprechen gelernt. Zuhause war alles zerstört! Es gab ihre alte Heimat nicht mehr.
Die Novaks waren sehr beliebt im Dorf. Die Bewohner sammelten Unterschriften. Wir alle wollten sie hierbehalten. Wie könnte auch jemand so grausam sein und Doroteja mir wegnehmen wollen? Jetzt wo ich zum Teil der Familie geworden war. Ich kannte den Weg nach Hause kaum mehr, ich lebte fast schon bei den Novaks.
Hier war alles Zuckerwatte, hier schmeckte sogar trockenes Brot wie Schokolade. Ich fragte mich oft, wie ich vorher leben konnte − ohne sie. Mit Doroteja war alles bunt, als wäre sie tatsächlich einem Disney Film entsprungen. Ich versuchte später oft, zu verstehen, warum sie so wichtig für mich gewesen war. Heute denke ich, es war die Demut vor dem Leben, ihre unerschütterliche Lebensfreude. Sie wusste, den Frieden zu schätzen.
Wir sind nur damit beschäftigt, uns zu vergleichen. Besser, schneller, weiter, höher. Wir sehen nur den unerreichbaren Gipfel, sind frustriert, weil wir ihn nicht erreichen. Menschen wie die Novaks sehen, wie viel des Weges hinter ihnen liegt und sind froh, es so weit geschafft zu haben, mit jedem noch so kleinen Zentimeter.
Ich wollte und konnte nicht glauben, dass sie uns womöglich verlassen mussten. Das durfte nicht geschehen, also geschah es auch nicht! Daran glaubte ich so fest wie an den Frühling nach dem Winter. Ich zweifelte keine Sekunde daran und so war ich völlig unbekümmert.
***
An einem späten Herbsttag standen Doroteja und ich auf dem Pausenhof, an die schmutzige Wand des Schulgebäudes gelehnt. Wir knabberten an unseren Broten und blickten uns verstohlen um, als würden wir etwas Ungeheuerliches aushecken. Doch niemand schenkte uns Beachtung.
Es roch nach Winter. Das war der Schnee, der bereits auf den Bergen lag und zu uns herüberwehte. Ich zog meine Jacke enger und fröstelte.
»Also, Doro, jetzt hör mal gut zu«, begann ich.
Doroteja fummelte an ihrer Tüte herum und das Knistern brachte mich für einen Moment aus der Fassung. Was wollte ich noch mal sagen?
»Ich noch nie Schnee gesehen, das mein Wunsch, ich will sehen!«, hörte ich Dorotejas Stimme zwischen dem Geraschel. Sie blickte in die Ferne, als ob auch sie ihn riechen konnte.
Da fiel es mir wieder ein. Ich stellte mich direkt vor sie, damit sie mich ansehen musste. »Wir brauchen uns überhaupt keine Sorgen machen. Ihr müsst nicht weg. Niemals.« Ich verschränkte siegessicher meine Arme und sah sie an, als hätte ich gerade einen Preis gewonnen.
»Aa-ha und woher du weißt das?«, forderte sie mich heraus. »Bist du Chef von Deutschland?« Sie stemmte ihre Arme in die Hüften und bohrte nach: »Hmmm?« Ihre Stimme wurde immer höher, bis sie nur noch piepste.
»Weil ich es mir nicht vorstellen kann − und was ICH mir nicht vorstellen kann, das passiert auch nicht!« Meine kleine heile Nussschalen-Welt kannte die wirkliche Welt da draußen noch nicht. Das Einzige, was mir Kopfzerbrechen bereitete, war die Unendlichkeit des Weltalls, doch selbst das veränderte sich nicht.
Meine Sicherheit sprang auf Doroteja über.
Sie hakte sich bei mir ein und strahlte, ohne einen Schimmer des Zweifels. Erhobenen Hauptes und mit Schritten wie von Soldaten marschierten wir zur Schule hinein. Wir hielten uns fest, drückten die Hände zusammen, bis sie schmerzten. Doch ließen nicht los.
Wir saßen in unserem Kastanienbaum. Die Katzen verrieten uns nicht.
Sie blinzelten uns zu und wir lachten Tränen, weil niemand uns hier fand.
Unsere Herzen waren wie die Kastanien − von Stacheln geschützt.
Unsere beider Seelen − tanzende Blätter im Wind.
"Werden wir uns wiedersehen?"
"Na klar, Dummchen!"