Gräber im Meer



Gruppensieger beim Ideenzauber-Award (Wattpad)

Wir kamen aus den Trümmern unserer Heimat,

überquerten das Meer der Tausend Gräber

und wurden von der Welt vergessen,

im Höllenfeuer Morias.

 


I

 

Wir ertrinken! Wir werden alle sterben!

Schüsse zerrissen die Stille und ich wusste, es gab keine Rettung mehr. Das letzte Stück Hoffnung, das wir mit an Bord dieses Bootes genommen hatten, wurde von den Kugeln zerfetzt.

 Unser Schicksal war das Meer. Seine Tiefen unser Grab. Ich konnte nur noch beten, Allah würde uns empfangen, uns alle, und mein ungeborenes Kind.

 Ich faltete meine Hände, blickte in die Augen der anderen um mich herum und sah ihre Angst. Die Angst, die wie ein Parasit Besitz von ihren verlorenen Seelen ergriff. Die Gewissheit, dass unser Leben hier endete. Ich betete, betete und wartete, bis der Allmächtige uns in seine Arme schließen würde.

Die Kugeln hatten unser Boot getroffen. Die Luft, die den Löchern entwich, zischte wie die Zunge einer hungrigen Schlange, die nur darauf wartete, uns zu verschlingen.

Das Boot, das unsere Rettung hätte sein sollen, verschwand wie eine Nussschale so klein in der Weite des Mittelmeeres. Der Horizont verschluckte es, als könnte er dadurch wieder gut machen, was die Männer angerichtet hatten. Doch es war nicht mehr gut zu machen. Nie wieder.

Ich glaubte zu verstehen, dass die Schüsse kein Zufall sein konnten. Sie wollten unsere Leichen am Strand sehen, wir sollten nie dort drüben ankern. Doch ich wusste auch, dass es noch schlimmere Methoden gab. Der Pushback nach Libyen, wo uns Folter, Gefangenschaft und Vergewaltigung drohte. Oder die Flüchtlingslager mit dem Stacheldraht auf der anderen Seite, die nicht selten in Flammen aufgingen und die zur Abschreckung dienen sollten.

 Mir erschien in diesem Moment der Grund des Meeres als das kleinere Übel. Und doch hatte ich gehofft, mein Baby bekäme eine Chance, eine klitzekleine wenigstens. Doch es hatte den Anschein, als dürfte es meinen Bauch niemals verlassen.

Das Wasser würde uns verschlingen, einen nach dem anderen. In diesem Augenblick, in dem ich mich auf meinen Tod vorbereitete, war ich dankbar, dass mein Kind sicher und behütet unter meinem Herzen schlief und dass es nichts von alledem mitbekam, was sich um uns herum ereignete.

Es waren zu viele Menschen an Bord, das war uns nach wenigen Stunden bewusst geworden. Wir beteten um Hilfe und als wir ein Schiff in der Ferne gesehen hatten, war Hoffnung in uns gekeimt, doch der Funke in uns war von den Männern an Bord des nahenden Schiffes sogleich im Keim erstickt worden, sie hatten mit Gewehren auf uns gezielt und dabei aus vollem Halse gelacht, es klang vernichtend.

Unser Boot verlor rasch an Luft und unsere Panik wuchs. Einer gespenstischen Stille folgten Klagelaute, die mich bis heute verfolgen. Gebete, Schreie, Schluchzen. Das Vertrauen in die Menschlichkeit, das wir gehabt hatten, verklang im Nichts.

Ich erkannte, die Welt gehört dem Bösen und Allah wollte uns von hier fortbringen. Ich akzeptierte seinen Willen. Denn auch ich hatte den Glauben an das Gute auf dieser Erde verloren. Was sollten wir noch hier? Die Liebe in mir starb und sank noch vor mir in die Tiefe, die sich mir offenbarte.

Wir waren etwa dreißig Menschen an Bord unseres Bootes, das für höchstens die Hälfte gedacht war. Davon acht Kinder und zwei Babys. Amara, das kleinere, auf dem Arm seiner Großmutter Sadia. Und Mayla bei ihrem Vater Lounis. Sie klammerten sich an mich und wir beteten gemeinsam.

 »Wir werden alle sterben«, flüsterte Sadia. Sie vergrub ihr Gesicht in dem kleinen Bündel vor sich. Es war still. Viel zu still.

»Allah, steh uns bei«, weinte Lounis und er wiederholte es immer und immer wieder.

Er sprach nichts anderes, es gab nichts sonst zu sagen. Mayla auf seinem Arm wimmerte und wand sich. Er drückte sie an sich, während das Wasser seinen Oberkörper erreichte. Es fraß uns langsam auf, Stück für Stück.

Das Boot unter uns versank, es ließ uns im Stich und die meisten von uns trieben in ihren Schwimmwesten über das Wasser wie Korken.

Ein Dutzend Rettungsringe umrundeten uns. Ich griff nach einem, reichte ihn weiter an Lounis, den nächsten gab ich Sadia, damit sie die Babys drauflegen konnten. Damit sie im Trockenen waren. Den nächsten nahm ich mir, mein Baby brauchte ihn nicht. Das war unser zweiter Tag auf See. Wir waren geflohen, vor dem Tod und den Bomben, und trieben unserem Ende auf anderer Weise entgegen.

Wir waren den grinsenden Männern gefolgt, die das letzte Geld aus unseren Taschen genommen hatten, die sich von mir noch mehr genommen hatten, weil sie sofort bemerkten, dass ich allein reiste, dass mich niemand beschützen konnte.

Doch ich spürte die Schändung kaum, denn die Bilder des Krieges und des Todes in meinem Kopf waren noch zu klar, zu nah und zu bedrohlich. Mein Körper und meine Seele waren taub und gelähmt. Und genauso leer und dunkel wie die Augen des Schmugglers, der sich über mich gebeugt hatte.

Sie raubten uns so viel mehr. Unsere Hoffnung. Unsere Zukunft. Unser Leben. Sie schickten uns in den Tod und verdienten noch daran.

Alles, was wir wollten, war zu überleben, unsere Kinder in Sicherheit zu bringen. Unsere Heimat zu vergessen, die ein Massengrab war. Doch unsere Flucht besiegelte unser Schicksal. Wir waren den Bomben entkommen und dem Seeungeheuer direkt ins Maul geschwommen. Für uns schien es keinen Platz auf dieser Welt zu geben.

Wir blieben dicht zusammen, hielten uns an den Händen, klammerten uns aneinander und beteten. Wir sangen, summten und weinten. Nährten das Meer mit unzähligen Tränen. Die Sonne brannte auf unsere Köpfe, das Wasser hüllte uns ein wie eine schützende Decke, doch unter ihr warteten schon unsere Gräber.

 

II

 

Die erste Nacht im Wasser war voller Sterne. Sie strahlten auf uns herab und zerflossen auf der Meeresoberfläche zu einem silbernen Seidenschal. Das Universum versuchte uns zu besänftigen, dort oben empfinge uns nur Schönheit, wenn wir nur unsere Seele nicht verlieren würden.

Wir bildeten eine klagende Menschentraube, die sich aneinander klammerte und auf ihren Tod wartete. Ohne Worte waren wir in Gedanken und Gefühlen eine Einheit. Hin und wieder murmelte jemand tröstende Worte − für die weinenden Kinder.

Mayla und Amara hatten keine Kraft mehr, um zu schreien, sie waren leblose Bündel, die kaum merklich atmeten. Nur das regelmäßige Zucken verriet, dass sie noch nicht zu den Sternen gewandelt waren.

Aber mein tapferer Samir, der war schon seit einer Woche dort oben. Er strahlte am hellsten, von all den Sternen. Sein kleiner Körper hatte der anstrengende Flucht in der verheerenden Hitze nicht standgehalten. Er rutschte von meiner Hand auf den staubigen Boden und blieb einfach liegen zwischen Geröll und Staub. Ich konnte ihn nicht einmal beerdigen. Eine alte Frau drückte mir ein paar verdorrte Olivenzweige in die Hand und ich bedeckte damit Samirs Gesicht.

Doch sicherlich war er dort oben bei den Sternen gebührend empfangen worden. Von seinem Vater und seinen Großeltern und all den vielen Bekannten, die diese Welt bereits verlassen hatten. Ich musste mich nicht um meinen Prinzen sorgen, denn auch ich würde ihn schon bald in die Arme schließen können und dann wäre endlich Frieden um uns herum.

Ich fühlte mich, als würde ich zerfließen wie das Licht der Sterne auf dem Wasser. Mein Geist war weit weit weg und ich spürte die Kälte kaum, die sich allmählich meine Beine emporfraß. Wir alle konnten nicht mehr klar erkennen, ob wir schliefen oder schon dabei waren, zu sterben.

Trotzdem ertappte ich mich hin und wieder dabei, wie ich nach Motorengeräuschen lauschte, wie ich den Horizont nach Scheinwerfern absuchte, die Luft nach Lichtern. Wie konnte ich immer noch glauben − oder hoffen − es würde Rettung nahen? Wie konnte das sein? Niemand wollte uns retten. Niemand! Wir waren Strandgut, das in wenigen Tagen irgendwo an Land gespült werden würde. Zwischen Muscheln, Plastikflaschen und Meerestieren. Was würden sie dann mit uns tun? Aufsammeln und in Tüten stecken? Zurück ins Meer schmeißen? Oder im Sand verbuddeln − es war mir gleichgültig. Gott würde über ihr Tun und Nichtstun richten. Sie alle bekämen eines Tages ihre Abrechnung, ob in diesem oder in einem anderen Leben.

Meine Gedanken vermischten sich mit Erinnerungen und gingen in wirren Träumen unter. Das Schaukeln der Wellen hatte etwas Tröstliches, als würden wir alle sanft in den Schlaf gewiegt werden. Doch bei einigen half es nicht. Nichts konnte diejenigen trösten, die sich in der Glut der Morgendämmerung die Rettungswesten vom Leib rissen. Am ersten Morgen waren es zwei, am letzten insgesamt sechs. Sie konnten es nicht abwarten, zu unserem Erlöser zu gelangen. Keiner von uns versuchte, sie davon abzuhalten. Wir alle waren an den Punkt angelangt, an dem der Tod mehr Leben versprach. Die Hoffnung auf Erlösung war das Ziel, an das wir uns klammerten. Wir wollten wieder mit denen vereint sein, die wir verloren hatten.

Diese Welt und die Menschen darin gehören dem Teufel, wer sonst ist dazu fähig, Kinder den Flammen der Hölle zu überlassen? Wer ist fähig, dabei zuzusehen, wie die Menschen leiden − Tag für Tag und Jahr für Jahr? Wir alle hätten die Fähigkeit, in Frieden und Wohlstand zu leben, wenn nicht das Böse regieren würde. Doch der Mensch ist blind, taub und stumm geworden. Der Mensch auf dieser Erde ist ein lebender Toter. Doch die, die im Jenseits wandeln, sind die toten Lebenden.

 Mein kleiner Samir lächelte mich an, ich sah ihn vor mir, wie seine Augen leuchteten, seine Wangen vor Aufregung glühten. Das Herzlein musste in seiner Brust Purzelbäume geschlagen haben, so groß war sein Stolz gewesen, als er das erste Mal auf dem blauen Fahrrad gesessen hatte. Zaid stützte ihn, rannte an seiner Seite mit, bis zur nächsten Hausecke, wo Samir kreischend verschwand. Mein Mama-Herz schlug die gleichen Purzelbäume, als ich meine Männer in diesem Augenblick voller Glück und Lebensfreude beobachtete.

Ich hatte diesen Moment in meiner Seele eingeschlossen, um mich in schweren Stunden wie diesen an ihm zu nähren, Hoffnung zu schöpfen und meine Erinnerungen an sie festzuhalten. Um mich vor dem Wahnsinn schützen zu können, der versuchte, Besitz von uns Verzweifelten zu nehmen und dem Teufel noch mehr Nahrung zu bringen. Das konnte ich nicht zulassen und das würde ich nicht zulassen.

 

III

 

Niemand sprach ein Wort. Wir starrten ins Leere, in das unendliche Blau aus Himmel und Wasser. Oder hielten die Augen geschlossen, wandelten zwischen den Welten und in Fieberträumen.

Die Kinder klammerten sich an ihre Begleiter, zwei waren allein, doch es waren genug Hände, die sie ergreifen konnten. Wir alle hielten uns wie ein Netz zusammen, doch im Laufe des nächsten Tages waren es drei weitere, die plötzlich losließen und ohne ein Wort die Rettungsweste öffneten, um von uns zu gehen.

Jedes Mal, wenn das geschah, riss unser Netz und wir trieben mehr und mehr auseinander. Jeder, der uns auf diesem Wege verließ, nahm ein Stück des Lichtes mit, das bis dahin noch in uns geflackert hatte. Doch die Welt um uns herum wurde Nebel. Und die Geister zeigten sich, hämisch grinsend.

Die zweite Nacht brach an und inmitten der Dunkelheit spürte ich ein Zittern neben mir. Meine Hand wurde beinahe zerquetscht, mein Herz raste, bis mir schwindelig wurde. »Sadia?«, rief ich in die Stille. Ich konnte nur ihre Silhouette erkennen, die sich aus der Nacht herausschälte. »Sadia?«

Sie zuckte und ihre Finger in meiner Hand entglitten, ich ließ sie nicht los, versuchte, sie zu beruhigen, doch es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ihr Körper sich entspannte. Lebte sie noch? Allah, ich bitte dich, lass sie und die Kleine noch leben. Ich hörte nichts von dem Baby.

Sadia flüsterte: »Ich schaffe es nicht, ich halte es nicht mehr lange durch. Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Oh bitte, Allmächtiger, hilf mir!«

»Du wirst es schaffen. Du musst!«, befahl ich und umfasste sie mit beiden Händen. Sadia war eiskalt und sie zitterte wie ein Blatt im Sturm. »Halte durch! Gott ist bei uns, er rettet uns.«

Wir beteten gemeinsam bis zum Morgengrauen, wir drückten unsere Finger, bis wir sie nicht mehr spürten, mit unseren freien Händen streichelten wir die kleine Amara. Ein so kleines Wesen inmitten dieser Unendlichkeit aus Wasser und Himmel. Ein Bild wie eine Blumenwiese in der Wüste – eine Fata Morgana?

Die ersten Sonnenstrahlen krochen über den Horizont und legten sich auf das blasse Gesicht des Babys. Ihre Wangen schimmerten und sie glich mehr einer Puppe als einem Menschen. Ihre Reinheit und Schönheit, die ungeachtet würde bleiben müssen, schnitt tiefe Wunden in mein Herz. Sie sollte in ihrer Wiege liegen, gebettet in rosa Kissen und sanft geschaukelt von ihrer Mutter, die ihr lächelnd ein Schlaflied summt. Und nicht im Angesicht des Todes, vergessen und verloren wie die Trümmer unserer Häuser.

Amara nuckelte an ihrem Finger, spürte den nagenden Hunger in ihrem Körper wohl schon lange nicht mehr. Sie hatte es aufgegeben, zu schreien, denn sie konnte nur mit Tränen gestillt werden anstelle mit warmer Milch. Sie war so tapfer, kämpfte trotzdem weiter, weiter und immer weiter, um einen Platz im Leben einer Welt, die keinen mehr frei hatte − nicht für uns Heimatlosen, nicht für uns, die niemand wollte, die niemand jemals wieder brauchte. Unser Platz war der Grund dieses Ozeans. Unser Freund − der Wind des Meeres. Unsere Bestimmung − leben, um zu sterben, ohne jemals richtig gelebt zu haben. Ohne die Chance auf ein friedliches Leben. Wir waren immer nur Opfer, doch wofür? Irgendeinen Sinn musste unser Dasein und unser Tod doch haben? Nur Gott konnte das begreifen, unser Verstand reichte nicht aus.

Ich wollte loslassen, all meine Gedanken, all meinen Hass und meine Wut. Doch ich konnte nicht, noch schlug mein Herz, noch hämmerte es wie verrückt in meiner Brust. Noch lebte ich. Wer bin ich, der über mein Leben entschiede? Nur Allah vermochte dies. Ich würde alles ertragen, bis er mich erlöste.

Das Glitzern der Wasseroberfläche kündigte den nächsten Tag an. Das Meer erstrahlte in unverschämter Schönheit. Und wir trieben noch immer wie Papierschiffe dahin.

Sadia und ich umhüllten die kleine Amara.

Und dann geschah es.

Sadia schob mir das Bündel herüber, ließ meine Hand los und flüsterte: »Bitte, versprich mir, dass du sie bis zuletzt umsorgst. Und dass du kämpfst!« Sie weinte. Und schluchzte, flehte mich an.

»Sadia. Nein!« Sie würde doch nicht … das durfte sie nicht! Sie konnte doch nicht einfach ihr Fleisch und Blut im Stich lassen? Niemals! »Jetzt reiß dich zusammen! Bitte, Sadia.« Ich spürte Panik aufsteigen, wie die Flut überschwemmte sie mich.

 Doch als ich begriff, war es schon passiert. Sadias Weste schwamm davon. Und Sadia versank vor meinen Augen in den Tiefen des Gräbermeeres.

Ich schrie. Presste die Hand vor den Mund. Das hier war die Hölle. Dieses Meer war ein Albtraum, ein Friedhof. Ein Massengrab. Furcht kroch meine Beine hoch, mir wurde eiskalt und ich glaubte, das Bewusstsein zu verlieren. Doch dann hörte ich Amara wimmern. Das Kind brauchte mich. Egal, was in mir vorging. Solange mein Kind im Bauch lebte und dieses Kind hier in meinen Armen, solange würde ich kämpfen. Kämpfen und hoffen. Und glauben.

Jemand ergriff meine Hand. Lounis war noch da, und Mayla. Sie war am Leben. Locken umhüllten ihr schmales Gesicht. Sie war höchstens ein Jahr alt. Was hatte sie verbrochen, kaum dass sie geboren worden war? Warum war sie es nicht wert, gerettet zu werden? Wer könnte diesem unschuldigen Kind in die Augen blicken und ihm seine rettenden Hände verwehren?

Die Sünden der Menschen hier auf Erden nehmen kein Ende, Unschuldige leiden, sterben und die Endlosschleife kann nicht durchbrochen werden. Ist Friede auf dieser Erde überhaupt möglich? Oder kann man dieser Vorhölle nur durch den Tod entrinnen? Doch es gibt doch Menschen, die in Frieden geboren werden und in Frieden sterben. Warum sie und nicht wir?

 Ich betete zu Gott, er möge uns in sein Reich bringen, uns, die auf dieser Welt nur Leid ertragen müssen, uns, die trotz alledem niemals aufhören, an ihn zu glauben und seine Gebote zu befolgen.

 

IV

 

Zu viele von uns fraß die Sehnsucht nach Ruhe auf. Sie waren leichte Beute für die Monster der Tiefe und wie hypnotisiert rissen sie ihre Rettungswesten von ihren Körpern und gaben sich der Dunkelheit hin. Sie verschwanden von der Oberfläche wie Wasserblasen, platzten und wurden zu Luft.

Die Wenigen, die noch Hoffnung in sich trugen, deren Licht noch nicht vollkommen erloschen war, vergaßen mehr und mehr sich aneinander festzuhalten. Zu viele ließen sich mit den Wellen hinfort tragen − es war ihnen gleichgültig, wohin der Wind sie brachte. Die Gliedmaßen waren zu schwer, der Geist zu träge und die Hoffnung zu schwach.

Doch ich hielt die kleine Amara im Arm und mein Kind im Bauch. Ich wollte kämpfen, für diese unschuldigen Seelen, ich musste kämpfen und ich spürte eine neugewonnene Energie.

Ich versuchte, in Bewegung zu bleiben. Strampelte um die wenigen Menschen herum, trieb sie zusammen, forderte sie auf, sich an den Händen zu halten. Die meisten unter ihnen waren Kinder und ich hatte den Anschein, dass sie dankbar um meine Befehle waren. Sie funktionierten plötzlich wieder, als wären sie Roboter, die durch meine Worte aktiviert worden waren.

Mit erstaunlich wachem Geist taten sie, was ich sagte. Ergriffen einander an den Händen, summten Melodien, strampelten und blieben in Bewegung − so wie ich es ihnen anordnete.

Der Mensch ist ein außergewöhnliches Geschöpf, so zerstörerisch und verletzlich, so tapfer und schwach zugleich. Liebenswert und abscheulich. Ich war hin und hergerissen, doch musste mir eingestehen, dass ich mehr und mehr neue Hoffnung schöpfte und mein Grab nicht länger auf dem Meeresgrund sehen wollte.

Allah hatte andere Pläne mit mir.

Mein liebster Samir, kannst du auf mich warten? Dir geht es doch gut, da oben, oder? Ich kann noch nicht kommen, aber sei nicht traurig, ich denke an dich, jede Minute und jeden Tag und bald werden wir einander wiedersehen. Geben die anderen auch auf dich acht? Grüße Papa von mir und gib ihm einen Kuss. Sag ihm, ich bin ein tapferes Mädchen, er muss sich nicht um mich und sein Kind sorgen. Wir werden es schaffen, ganz bestimmt. Sag ihm, ich trage seine Liebe fest in meinem Herzen. Und deine auch, mein Kind. Wir werden für immer zusammenbleiben, egal in welcher Welt und egal, wann wir uns wiedersehen werden. Ich liebe euch, wartet auf mich!

Ich sah sie vor mir, meine beiden Männer. Mit ungezähmten Locken und Gesichtern wie Diebe. Die Diebe meines Herzens. Für alle Ewigkeit. Jede Faser meines Körpers schrie vor Sehnsucht, wie kann ein Mensch nur so viel Leid ertragen?

 Mein Kind! Sein Lachen, seine Stimme, seine Wärme − all das war mit einem Mal verloren. Mein Hals brannte, mein Herz zersprang in Millionen Teile.

Ich presste das kleine Bündel an mich, so dass es mein rasendes Herz spüren musste. All die Sehnsucht, all der Schmerz und all die Liebe presste ich an dieses noch lebende Baby in meinen Armen und schwor mir, dass ich es retten würde. Als Symbol für all die verlorenen Seelen dieses Ozeans, auf dass es endlich ein Ende nehmen würde.

 Die Liebe siegt immer! Das habe ich meinem Sohn stets gesagt, wenn er sich fürchtete. Wenn er das Böse rundherum nicht fassen konnte, wenn seine Augen schwarz wie der sternenlose Himmel waren. »Die Liebe siegt immer und das Böse verliert! Du musst dich nicht fürchten!«

 Hatte er mich als Lügnerin entlarvt, als er mich in meinen Armen fragte − vor Hitze kaum mehr bei Bewusstsein −, wann das Gute denn endlich käme und siegte, weil er doch keine Zeit mehr hätte? Er hatte zu mir aufgeblickt, als wüsste er, dass ich ihm diese Frage nicht beantworten könnte oder nicht beantworten wollte!

Dann verließ er mich. Ich wollte ihm folgen, um ihm zu sagen, dass die Liebe in unseren Herzen siegt, wenn wir sterben und zu Gott gehen. Das Böse verliert, indem es auf Ewig in der Hölle verdammt ist. Die Hölle ist zu uns gekommen, sie ist auf dieser Erde, in unserer verlorenen Welt. Sie ist hier! Nur der Tod kann Erlösung bringen. Doch wir dürfen den Zeitpunkt unserer Rettung nicht selbst wählen, nur Allah kann das. Der, der sein eigenes Leben beendet, wird die Welt und seine Hölle niemals verlassen können. Der Allmächtige nimmt keinen zu sich, der tötet.

Samir, du bist nun dort, wo das Gute immer siegt, dort, wo Allah ist, dort, wo die Liebe herrscht. Warte auf mich!

Meine Tränen vermischten sich mit dem Meer und unser Salz vereinte sich. Ich forderte alle um mich herum auf, sich festzuhalten. Wir bildeten wieder unseren Kreis. Alle Hände waren gefasst, ich zählte nurmehr sieben Kinder, die beiden Babys, sechs Männer und vier Frauen.

Rettungsringe, Westen und Stofffetzen trieben mit uns gemeinsam dem Nichts entgegen. Weder Schiff noch Land war in Sicht. Gespenstische Stille, ab und zu Gebete und Klagelaute. Doch kein Zeichen von Leben oder Rettung.

»Die Babys halten nicht mehr lange durch, wir werden es nicht schaffen«, sagte Lounis. Mayla gab keinen Mucks von sich. Sie lag in seinen Armen wie ein Geist. Ihr Gesicht schimmerte wie Marmor, die schwarzen Brauen stachen unnatürlich hervor und auch ihr Wimpernkranz bildete einen zu starken Kontrast zum Weiß ihrer Wangen. Wie wunderschön sie war. Eine kleine Prinzessin des Meeres, unsere kleine Meerjungfrau. Gefangen zwischen den Welten, weder tot noch lebendig.

Ich blickte auf und sah in Lounis tiefe Augen. Er war ohne Hoffnung, ohne Mut. »Bitte gib nicht auf! Mayla braucht dich.« Ich flehte ihn an, schenkte ihm Kraft mit meinen Worten. »Tu es für deine Frau! Sie würde es dir nicht verzeihen, wenn du einfach aufgibst!«

Seine Augen füllten sich mit Tränen, er biss sich auf die Lippe, bis Blut hervorquoll und drückte Mayla an sich. Wir weinten und beteten gemeinsam. Für die Kinder, für uns und unsere Verstorbenen, bis der Abend dämmerte.

Das Meer wurde in das Blut der Abendsonne getränkt − und in das Blut der Hunderten von Toten, die hier ihr Grab hatten finden müssen. Ihre Seelen schwebten über uns und versuchten zu trösten. Der Tod ist nicht das Ende. Gott erwartet euch, schienen sie zu rufen. Doch es ging nicht um uns Erwachsene, sondern um die Kinder. Sie mussten erst leben, um sterben zu können.

Und so mussten wir ihre Lockrufe ignorieren, weiter beten, weiter hoffen und ausharren, solange wir konnten. Solange das Herz in unserer Brust schlug und unsere Hände einander festhielten.

Wieder kam die Nacht und ihre Sterne. Dunkelheit verschlang uns und kein Licht war in Sicht.

 

V

 

Die Dunkelheit wich dem nächsten Morgen nicht mehr. Um mich herum blieb es Nacht. Ich fiel in wirre Fieberträume, in denen das Baby in meinen Armen mich manchmal anlächelte, als wäre es das strahlende Leben. Dann wieder hielt ich ein leeres Stück Stoff in meinen Händen. Ich suchte das Gesicht, doch ich konnte es zwischen all den Falten nicht entdecken. Ich hörte mich selbst schreien, fluchen und flehen. Doch wusste ich nicht, ob die Töne tatsächlich heraustraten oder ob all das nur in meinen Kopf stattfand.

In einem Moment hielt ich plötzlich mein ungeborenes Kind im Arm. Es war so klein wie ein Kätzchen und es hatte Samirs Gesicht. Mein Herz schlug so fest gegen meine Brust, dass ich mir sicher war, ich würde an einem Herzinfarkt sterben, anstatt zu ertrinken oder dem Fieber zu erliegen.

»Warum bist du nur in dieses Boot gestiegen, warum nur?«, hörte ich jemanden neben mir weinen. Ich wagte kaum, mich umzudrehen. Ich kannte die Stimme und es konnte nicht real sein. Mein Körper gefror in dem lauwarmen Wasser zu einem Eisklumpen.

Mein Mann, mein geliebter Mann. Seine Augen waren rot vom vielen Weinen. Er war blass und doch so wunderschön. Die Sehnsucht zerriss mich wie ein Stück Papier. Ich wurde gebeutelt von heftigen Krämpfen und Seelenschmerzen. Nichts schmerzt mehr als ein gebrochenes Herz, es zieht dich in die Tiefe, raubt dir die Luft zum Atmen und presst deine Brust aus, bis kein Tropfen Leben mehr in dir ist.

Ich wollte nach ihm greifen, doch plötzlich war es Lounis, der mich versuchte zu beruhigen. Ich blickte auf das Bündel in meinen Händen und konnte nicht sagen, ob Amara schlief oder schon tot war. Ich presste sie an mich und glaubte zu spüren, wie ihr Mündchen versuchte, an meinem Hals zu nuckeln, das bisschen Salz zu erhaschen. Wie lange konnte ein Säugling ohne Milch überleben?

Ich betete und betete und betete … dann versank ich im Reich der Erinnerungen, spürte weder das Wasser um mich herum noch das Kindchen, das ich trotz meines Zustandes wie mechanisch an mich drückte.


***


Es mussten mehrere Stunden vergangen sein, bis wieder ein Stückchen Realität in mein Bewusstsein vordringen konnte. Ich schmeckte Sand, er knirschte zwischen meinen Zähnen. Ich fühlte ihn auch an meinen Händen und Füßen. Es war seltsam, etwas anderes als Wasser am Körper zu spüren.

Mein Kopf war glühend heiß, meine Lippen blutig, meine Kehle so staubtrocken wie die Sandkörner. Ich blinzelte in die Abenddämmerung, öffnete meine Augen und war mir nicht sicher, ob ich mich noch immer in meinen Fieberträumen befand. Mein Herz schlug hart und viel zu langsam in meiner Brust.

 Ich senkte meinen Blick, Amara lebte! Sie wimmerte und verzog ihr Gesicht. Mein Herz schlug etwas schneller, während ich sie beobachtete. Gleich würde sie jemand mit Nahrung versorgen, ganz gewiss. Irgendjemand musste uns schließlich gerettet haben, oder nicht?

Und dann kam ich zu mir, für wenige Augenblicke. Ich sah den Strand und die vielen Zelte, sah das Boot neben mir − voll mit Menschen −, ich sah auch Lounis und Mayla, einige der Kinder. Ich konnte nicht sagen, ob sie alle hier waren. Vielleicht.

Wir hatten es geschafft. Allah hatte uns noch nicht zu sich nehmen wollen, unsere Aufgabe hier in dieser Welt war noch nicht erfüllt worden. Samir und Zaid hatten mir Kraft gegeben, um zu kämpfen. Und das kleine Leben unter meinem Herzen, es sollte die Chance bekommen, diese Welt kennenzulernen, sei es auch noch so grausam hier.

Vielleicht würde es die andere Seite kennenlernen. Eine schöne, friedliche Seite, wie sie so viele Menschen dort draußen erleben dürfen. Ein Leben, das sich von Anfang an richtig anfühlt. Eine Heimat ohne Krieg, ohne Leid und Tod. Eine Kindheit voller bunter Farben, Luftballons und Zuckerwatte. Eine Kindheit, da wo Kinder hingehören, tanzend auf Blumenwiesen, durch Wälder streifen, Hand in Hand mit Freunden – mit der Chance auf eine Zukunft.

 All das könnte uns hier erwarten, all das würde uns hier erwarten − diese Hoffnung hatte mich so weit geführt. Auf die andere Seite des Ozeans, da, wo keine Schatten lagen. Ins Land des Lichts und der Hoffnung. 

Meine Taubheit wich dem Wehklagen der Menschen. Dem Weinen der Frauen, dem Jammern der Männer, den Schreien der vielen, viel zu vielen Kindern. Sie alle hatten es bis hierher geschafft, waren dem Tod ein weiteres Mal entkommen, waren ihm schon so viele Male entkommen. Die Anspannung fiel von uns ab und die Dämme unserer Seele brachen unter der Hoffnung, die zurückkehrte. Würden wir nun endlich ein Stückchen Frieden finden? Würden wir nun endlich unsere Schatten zurücklassen können? Hoffentlich blieben sie zwischen den dunklen, grauen Wellen des Meeres hängen und würden nicht wie wir an Land geschwemmt, wo sie uns womöglich wiederfänden.

Ich blickte in die andere Richtung, weg vom Meer, und betrachtete die Zelte, die vielen, viel zu vielen Zelte. Etwas stimmte nicht, etwas passte ganz und gar nicht in mein Bild von Hoffnung und Zuversicht. Und in diesem Augenblick erkannte ich, dass mich meine Schatten längst eingeholt hatten. Sie krochen meine sandigen Kleider hoch, griffen mit ihren Klauen nach meiner Kehle und ich rang nach Luft. Amara schluchzte auf und ich drückte sie fest an meine Brust. Doch in mir breitete sich Kälte aus, obwohl die Sonne auf mich herabschien. 

 Mein Blick wanderte über die weiße Oberfläche des Zeltmeeres. Und dann entdeckte ich ihn. Den Kranz aus silbernen Dornen, der wie ein Ungeheuer das Camp bewachte. Ich sah den Stacheldraht.